Vom Sorgenkind zum Champion
Am 27. Juli befand sich Spanien in einer der schlimmsten epidemiologischen Situationen der Welt. An diesem Tag wurden 700 positive Coronfälle pro 100.000 Einwohner in den letzten 14 Tagen überschritten – ein Ansteckungsgrad, der den Grenzwert, der die extreme Risikosituation kennzeichnet, fast verdreifacht. Der Abstand zu anderen Ländern war sogar für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) besorgniserregend. Die 14-Tage Inzidenz in Spanien war 5-mal so hoch wie in Italien (146 Fälle), 9-mal so hoch wie in Deutschland (80 Fälle) und mehr als 3-mal so hoch wie in den Vereinigten Staaten (215 Fälle).
Knapp 2,5 Monate später hat sich die Situation grundlegend geändert, und das Land, das damals das Schlusslicht der Welt bildete, führt heute nach einem schwindelerregenden Rückgang der Infektionen die weltweite Rangliste mit einer der niedrigsten Inzidenzen an. Innerhalb von zwei Monaten hat Spanien die 14-Tage-Inzidenz auf weniger als ein Zwölftel gesenkt. Am Freitag lag die 14-Tage-Inzidenz bei 57,91 Fällen pro 100.000 Einwohner.
In der Gesundheitsbranche gibt es keine Zweifel: Hinter dem “spanischen Wunder” stehen ausschließlich die sehr hohen Impfraten in Spanien. Weltweit übertreffen nur Portugal (85 Prozent), die Vereinigten Arabischen Emirate (82 Prozent), Malta (81 Prozent) und Island (80 Prozent) den Anteil der vollständig geimpften Bevölkerung von 77 Prozent in Spanien.
In diesen zwei Monaten hat das Land die übrigen Länder weit hinter sich gelassen: In Italien sind 67 Prozent der Bevölkerung vollständig geschützt; Frankreich und das Vereinigte Königreich liegen bei etwa 65 Prozent, Deutschland bei 63 Prozent; und in den Vereinigten Staaten sind nur 54 Prozent der Bevölkerung geschützt.
Aber warum ist Spanien Impfweltmeister?
Dafür gibt es laut Experten mehrere Gründe. “In Spanien haben wir uns traditionell auf Impfstoffe verlassen. Die Generation, die heute 70 Jahre alt ist, litt an Kinderlähmung, und diejenigen, die 50 Jahre alt sind, erinnern sich noch daran. Die Kinderlähmung wurde mit Hilfe von Impfstoffen ausgerottet. Deshalb sind die Anti-Impf-Bewegungen hier in der Minderheit, verglichen mit denen in anderen Ländern”, sagt Jaime Jesús Pérez, Impf-Facharzt und Experte für öffentliche Gesundheit, in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung SUR. Die Impfkultur habe sich in Spanien durchgesetzt, so Pérez. Vor allem nach der ersten Coronawelle, die mit massiven Einschränkungen verbunden war, sei der Bevölkerung klar gewesen, dass Impfstoffe die einzige vernünftige Lösung waren.
Ein anderer Faktor hat mit nationalen Eigenheiten zu tun. “Wir sind ein Land mit einer guten Beziehung zwischen den Generationen, und während der Pandemie mussten wir diese Beziehung unterbrechen. Aber wir haben gesehen, dass die Impfung der richtige Weg ist, um unsere älteren Menschen zu schützen und wieder mit Eltern und Großeltern in Kontakt zu treten”, so Pérez weiter. Außerdem war in Spanien sicherlich ein Vorteil, dass Termine grundsätzlich zentral vergeben wurden. Niemand musste sich selbst darum kümmern und Hausärzte abtelefonieren, wie das beispielsweise in Deutschland der Fall ist.
Gesundheitsexperten in Spanien sprechen sich nun dafür aus, in Spanien keine zahlenmäßigen Ziele mehr zu setzen, sondern eine möglichst hohe Zahl von Geimpften anzustreben. “Es wird immer einen Prozentsatz geben, den wir nicht überzeugen können, aber es ist wichtig, dass sich vor allem unter jungen Menschen nur sehr wenige der Impfung verweigern”, so Jaime Jesús Pérez. Diese sollen unter anderem über Covid-Busse, die vor Konzerten oder Sportveranstaltungen stehen, erreicht werden.
Quellen: World of Data, El País, Diario SUR.